Digitaler Minimalismus


 

Über Minimalismus blogge ich seit 15 Jahren. Digitaler Minimalismus ist eine andere Form des bewussten Konsums. Und anscheinend trifft das Thema einen Nerv, denn ansonsten würde der Spiegel kein Interview zu dem Thema hinter seiner Paywall stecken (“So kommen Sie von Ihrem Smartphone los”):

Cal Newports Digitaler Minimalismus handelt im Gegensatz zu seinem anderen Bestseller Deep Work nicht von Arbeit und Produktivität, sondern unserem gesamten Leben und dem Einfluss, den Technologie darauf hat.

Daniel Levitins The Organized Mind zeigte, wie leicht unser Gehirn abgelenkt werden kann, Newport stelle die Gegenseite dar, nämlich dass die Aufmerksamkeitsöknomie vor allem denen monetär dient, die unsere Lebenszeit erfolgreich an Werbetreibende vermarkten können. Wer denkt, dass dies ein Phänomen der Neuzeit sei, nein, dies begann mit der Einführung der Penny Newspapers im Jahr 1830, wo nicht mehr die Leser die Kunden waren, sondern die Werbetreibenden in einer Zeitung.

Die unbewusste Nutzung von Social Media führt zu Erschöpfung, Angstgefühlen, Depression und vor allem zu einer Vergeudung von Lebenszeit, so Newport. Argumenten wie dem, dass FaceBook und Co uns helfen, in Kontakt mit Freunden und Verwandten zu bleiben, wird gegenüber gestellt, dass es sich hier nicht um einen qualitativ hochwertigen Kontakt handelt, halt eher connection als conversation, wie Sherry Turkle es unterscheidet. Werden Beziehungen weniger digital geführt (bzw digitale Kommunikationswege nur genutzt, um eine klassische Kommunikation zu ermöglichen), so werden diese sogar gestärkt. Unsere Zeit auf FB und Co. verbringen wir nicht nur mit einer qualitativ minderwertigen Konversation, sondern auch mit dem sinnlosen Scrollen durch Updates, die uns das Gefühl geben, wir wären verbunden, uns aber gleichzeitig einsam zurücklassen.

Newport will aber nicht darauf hinaus, dass wir gar nicht mehr Technologie nutzen sollen, sondern eine andere Einstellung zur Technologie erarbeiten, und er paraphrasiert dazu sogar Dieter Rams Satz “Weniger aber besser”. Dies führt zunächst zu einem digital declutter. Ironischerweise hat gerade der auf Achtsamkeit bedachte Steve Jobs dafür gesorgt, dass wir mit dem iPhone das Symbol für ständiges Verbundensein mit uns herumtragen. Eigentlich wollte er nur, dass man anstatt Telefon und iPod nur noch ein Gerät mit sich herumträgt. Dass man mit dem iPhone auch ins Netz gehen konnte, das wurde in der damaligen Keynote erst sehr spät erwähnt. Wir waren nicht darauf vorbereitet. Und plötzlich gab es eine App für alles:

 

Wir hatten keine Zeit darüber nachzudenken, was wir wirklich aus diesen neuen Technologien ziehen wollten (und selbst wenn man darüber nachgedacht hatte, wie ich damals, als ich keinen Blackberry haben wollte, fand man später zu viele Gründe, warum ein Blackberry doch eine gute Idee sein könnte). Und somit stehen seitdem Tür und Tor offen für diejenigen, die neue Gewohnheiten in uns formen wollen:

Nir Eyals Bestseller Hooked beschreibt diese Mechanik sehr genau. Fairerweise hat Eyal auch gleich das Gegengift geschrieben. Allerdings ist Eyals Ansatz nicht so elegant wie der von Newport, mehr mit den Symptomen beschäftigt, auch wenn er manchmal die Ursachen ankratzt. Wo Eyal schreibt, dass man seine Zeit zurückgewinnt, sagt Newport, überlege Dir vorher, womit Du sie füllen willst. Die Mechanismen, die beide beschreiben, sind jedoch dieselben.

Jeder Post, für den wir vielleicht einen Like oder Retweet bekommen könnten, bedeutet für uns dasselbe wie das Nutzen eines Spielautomats, eine Dopamin-Ausschüttung. Es gilt, seine Autonomie zurück zu gewinnen und sich der attention resistance anzuschließen, so Newport. Digitaler Minimalismus bedeutet für ihn

eine Philosophie des Technikgebrauchs, bei dem man seine Online-Zeit auf eine kleine Anzahl sorgfältig ausgewählter und optimierter Aktivitäten fokussiert, die eine starke Unterstützung für das bieten, was einem wichtig ist, und alles andere zu ignorieren. (eigene Übersetzung)

Dazu zitiert er Thoreau in Walden:

The cost of a thing is the amount of what I will call life which required to be exchanged for it, immediately or in the long run.

Das gilt natürlich nicht nur für Social Media & Co. Wer sich einen neuen Sportwagen kauft, muss sich ebenso überlegen, wie viel Lebenszeit dafür draufgeht, für diesen Sportwagen zu arbeiten und ob es das wert ist, dafür einen Sportwagen zu fahren. Der Profit, den man aus etwas zieht, muss gegen die Kosten der Lebenszeit gehalten werden, die man dafür benötigt, um eben dieses etwas zu bekommen. Umgekehrt sollte eine Technologie als optional betrachtet werden, sofern ihr temporärer Wegfall nicht den Zusammenbruch des eigenen (Arbeits-)Lebens bedeutet. Kann ich ohne App einen Wert in meinem Leben nicht mehr leben, oder bietet die App nur einen gewissen Mehrwert, den ich auch anders bekommen könnte? Dies steht im krassen Gegensatz zu FOMO. Um genau zu verstehen, welche Technologien wirklich signifikant wertstiftend verwendet werden, schlägt Newport eine 30-tägige Pause vor.

Während ich dies schreibe, befinde ich mich am 8. Tag der digitalen Pause. Tatsächlich macht Newport richtig Lust auf diese Pause, und ich habe schon damit angefangen, bevor ich das Buch zuende gelesen hatte. Während der Lektüre hatte ich mich mein Facebook-Profil pausiert und meinen twitter-Account deaktiviert (gefährlich, denn nach 30 Tagen ist dieser komplett verloren). Instagram ist gelöscht, ebenso Telegram und WhatsApp. Diese vielen Wege, um mich kontaktieren zu können, hatten mich eh schon genervt. Und dann habe ich tatsächlich noch Mail deinstalliert. Genau diese Schritte standen schon in Make Time, aber bei Newport geht es nicht darum, all diese Apps dogmatisch zu verbieten, sondern zu verstehen, was einem wirklich fehlt.

Tatsächlich habe ich mir mein letztes Telefon nur deswegen gekauft, weil ich die beste Kamera haben und nicht eine weitere Kamera rumschleppen wollte. Ich höre gerne Musik. Und ab und zu telefoniere ich gerne. So sieht mein Home Screen nun aus:

Von den Glücksspielautomaten sind noch Signal, Apple Nachrichten und Safari als Browser installiert. Alles andere ist entweder essentiell (Bank ohne Handy geht nicht mehr) oder hilft mir (zB die Corona-App). Zusätzlich habe ich nun immer den Nicht Stören-Modus als Standard eingerichtet. Nur meine Favoriten können mich nun noch anrufen, ihre Nachrichten kommen aber auch nicht mehr durch. Hier geht es aber nicht nur um Ablenkung.

Solitude, hier besser als Abgeschiedenheit übersetzt und nicht als Einsamkeit, benötigt die Möglichkeit, ungestört zu sein und nicht auf alles reagieren zu müssen, beziehungsweise die Freiheit von Input von Anderen. Abgeschiedenheit verlangt, dass wir mit uns selbst klar kommen müssen, wenn wir mit uns allein sind, ermöglicht intensives Nachdenken. Unser Wunsch nach sozialer Interaktion muss demnach ergänzt werden durch Zeiten der Abgeschiedenheit. Wie sehr mich das schon vor 14 Jahren beschäftigt hatte, zeigt dieser Blogeintrag aus dem Jahr 2007.

Newport geht aber noch weiter. Denn es sollen nicht nur Dinge nicht mehr getan werden, sondern es muss, wie oben beschrieben, auch überlegt werden, was man mit der gewonnenen Zeit und Aufmerksamkeit tun will, um nicht in ein Loch zu fallen. Das Handy ermöglicht es, solchen Momenten ansonsten schnell zu entkommen. Wie oft, das tracken die meisten Systeme bereits mit:

(An diesem Tag habe ich mehrere Veränderungen an der Konfiguration vorgenommen, daher war der Wert so hoch)

Newport schlägt vor, dass man Briefe an sich selbst schreibt, echte Konversation betreibt (anstatt zu chatten oder zu liken oder zu kommentieren), sich einer Offline-Gruppe anzuschließen oder etwas Nicht-Digitales mit den eigenen Händen betreibt. Bei Handwerk bin ich raus, aber zumindest Instrumente kann ich spielen. Dabei geht es darum, das Beste zu liefern, zitiert nach Rogowiski:

Leave good evidence of yourself. Do good work.

Facebook und Co nicht mehr zu nutzen soll demnach nicht ein Zeichen dafür sein, dass man ein Spinner geworden ist. Es soll ein mutiger Akt des Widerstands gegen die Aufmerksamkeitsökonomie sein. Das ist umso schwerer geworden, da wir einen vollwertigen Computer immer bei uns führen und nun aktiv nach Wegen suchen müssen, dessen Möglichkeiten zu beschränken. Immer noch ist mein reMarkable eines meiner liebsten Arbeitsgeräte. Ich kann darauf keine E-Mails checken oder schnell mal was nachschauen. Und immer öfter nutze ich nur noch dieses Gerät, wenn ich abends auf dem Sofa sitze.

Desweiteren bedeutet Newports Ansatz, dass man sich genau ansehen muss, wo man sich nun noch mit Informationen versorgen will. twitter habe ich nach einer Woche reaktiviert, aber fast alles entfolgt, da ich nur noch denen folgen will, die wirklich wertvolle Inhalte liefern. Und das sind die wenigsten. Eine Informationsdiät sozusagen.

Ich bin noch nicht so weit, dass ich ein Light Phone haben oder mein Smartphone die meiste Zeit zuhause lassen will (das Light Phone gibt es noch nicht in Deutschland). Dafür ist mir die Kamera im Telefon zu wichtig (früher hatte ich meistens eine Fujifilm X100 dabei, deren Akku in den entscheidenden Momenten leer war). Aber ich kann mir schon nach ein paar Tagen der digitalen Pause schon nicht mehr vorstellen, zu Facebook zurück zu gehen oder meine ersten Minuten am Tag damit zu verbringen, erst mal irgendwelche Feeds durchzulesen.

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