Immer mehr, mehr, mehr


Auf meinem Schreibtisch häufen sich die ausgeschnittenen Zeitungsartikel, über die ich bloggen will, doch zu dem gerade stattgefundenen Live Earth-Tag passt dieser Eintrag. Zunächst einmal ist da der Artikel aus der New York Times, der am 25. Juni 2007 als Beilage in der Süddeutschen Zeitung abgedruckt wurde, “Living in the Grip of Technology”. Darin berichtet Laurie J. Flynn von Käufern einer Zweitkamera, eines Zweit-iPods, eines Zwei-Computers und so weiter. So wird ein iPod allein fürs Joggen gekauft, da man Angst hat, das große Modell beim Laufen zu beschädigen. Oder es wird eine zweite Digitalkamera gekauft, die mehr kann als das mittlere Modell, mit dem man sich zunächst begnügen wollte. Oder es wird eine kleinere Kamera für unterwegs dazu gekauft. Die steigende Popularität von Laptops hat zudem dazu geführt, dass Haushalte immer öfter mehr als einen Computer besitzen. Der typische amerikanische Haushalt hat angeblich 25 elektronische Geräte und gibt im Durchschnitt $1.200 jährlich für neue Geräte aus. Man könnte dies als Gegenbewegung zu The Compact verstehen. Nicht weniger konsumieren, sondern immer mehr (dazu fällt mir gerade Herwig Mittereggers “Immer mehr” ein, aber er meinte etwas ganz anderes; schade, dass er anscheinend keine Musik mehr macht btw).

Zu meinen The Compact-Aktivitäten: Fast 4 Monate sind nun vorbei, und mein Konsum hat sich tatsächlich eingeschränkt. Die Ausnahme hier bilden Bücher, aber auch hier habe ich weniger gekauft als sonst und versuche erst einmal die zu lesen, die ich bereits habe. Es gab aber auch Käufe von Neuware:

  • Ein Paar Laufschuhe: Die kann man nicht gebraucht kaufen, bei bestem Willen nicht, aber das wird in der The Compact-Philosophie auch nicht verlangt.
  • Ein neuer Toaster. Ok, darüber kann man streiten. Irgendwie finde ich gebrauchte Toaster unhygienisch, und er war ein verlockendes Angebot, nachdem der alte Toaster immer mehr rumgezickt hatte.

Und jetzt kommts: Ein Klavier. Ich habe ein neues Klavier gekauft, kein klassisches, sondern ein Digital-Piano, und natürlich kann man das als absolute Sünde ansehen. Auf der anderen Seite hatte ich mir sehr, sehr lange ein Klavier gewünscht (ich besitze ansonsten nur alte Synthesizer, die immer erst verkabelt und in meinem Mini-Studio angeschlossen werden müssen, spontanes Geklimper ist unmöglich), und ich habe viele Monate nach einem gebrauchten Modell gesucht. Hinzu kam, dass der Musiklehrer unserer Tochter mir eine erstklassige Beratung gegeben hatte, und in seinem Angebot war die Anlieferung sowie ein kleiner Rabatt enthalten. Günstiger hatte ich kein gebrauchtes Modell gefunden (bei eBay waren Neuware stets teurer!), ganz abgesehen davon, dass ich bei eBay noch den Ärger mit dem Transport gehabt hätte. So aber wurde das Klavier geliefert, aufgebaut und einem Funktionstest unterzogen; die Verpackung wurde zudem wieder mitgenommen. Ein wenig versuche ich mein Gewissen auch damit zu beruhigen, dass The Compact den Konsum von Kultur erlaubt, wenn auch immateriell. Das Klavier ist äußerst materiell, aber es erlaubt die Erzeugung von Immateriellem. Wie auch immer, wegen des Klaviers habe ich kein schlechtes Gewissen. Das erste Stück, das ich gespielt habe, stammte aus dem Wohltemperierten Klavier

Eine weitere Variante des Antikonsums sind die Freegans (kommt von Vegans, also Veganern), über die auch die New York Times-Beilage der Süddeutschen berichtete (Ausgabe vom 2. Juli). Im Gegensatz zu The Compact gibt es bereits seit Mitte der 90er Jahre Freeganism, der auf der dazu gehörigen Webseite Freegan.info ausführlich erklärt wird. In dem Artikel wird beschrieben, wie die Freegans am Abend nach der letzten Vorlesung an der NYU die Müllcontainer nach Verwertbarem durchstöbern. Viele reiche Studenten verlassen den Campus und werfen Güter auf den Müll, die zu Augenreiben bei den Freegans führen: Neben unbenutzten Briefmarken findet sich ein voll funktionsfähiger Sharp-Fernseher und schöne Bilder. Doch Freegans gehen sogar weiter und essen gerade Abgelaufenes oder verhandeln mit Supermärkten über Überschüsse, die nicht verkauft werden. Darüber hinaus veranstalten sie freemeets, Flohmärkte, bei denen kein Geld ausgetauscht wird. Das alles tun sie, um gegen den ausser Kontrolle geratenen Konsum zu protestieren und Unternehmen die Unterstützung zu nehmen.

In Hamburg sehe ich immer mehr Menschen, die die Mülltonnen durchwühlen, nicht weil sie gegen den Konsum sind, sondern weil sie sich nichts anderes leisten können. Natürlich sieht man das auch in Amerika, und ich frage mich, wie die, die nicht anders können, über die denken, die nicht anders wollen. Oder über die, die sich gerade den zweiten iPod kaufen.

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