reMarkable Erfahrungen: Brückentechnologie für Digital Immigrants?


 

Warum um alles in der Welt sollte man sich ein reMarkable Tablet kaufen, wenn man schon ein iPad hat? Zunächst einmal: Es ergibt keinen Sinn. Und für viele Menschen ergibt es auch keinen Sinn, sich ein reMarkable Tablet zu kaufen, wenn man stattdessen ein iPad haben könnte und dessen Funktionen benötigt. Das reMarkable Tablet ist teuer, nicht so teuer wie ein iPad Pro, aber im Vergleich zu den Features eines iPads in derselben Preisklasse steht das reMarkable extrem schlecht da. Und trotzdem habe ich das reMarkable in den wenigen Tagen, die ich es nun besitze, lieb gewonnen. Die Version 1, die ich für unter 300€ auf eBay geschossen habe, wird wahrscheinlich bald weiter im Preis fallen, denn die 2. Generation wird bereits beworben. Aber bevor ich 500€ für ein Gerät ausgebe, von dem ich nicht weiß, ob es wirklich zu mir passt, nutze ich lieber ein Gebrauchtes, um das Konzept zu testen. Denn mit dem reMarkable kann man nur PDFs/eBooks lesen und annotieren und Notizen und Skizzen erstellen. Keine E-Mails, kein Websurfen, nix. Schwarz-weiß. E-Ink-Display. Schreibt sich mit dem Stift fast wie auf Papier. Den Stift muss man nicht aufladen, wohl aber die Minen ab und zu auswechseln. Und das Gerät kostet je nach Zubehör neu zwischen 450 und 600€.

Was ist mein Use Case? Ich hatte ein iPad Pro mit Stift und allem angeschafft, um mit weniger Gepäck von überall arbeiten und lesen zu können. Lesen und Schreiben sind, neben Programmieren, Kommunikation und Powerpoints erstellen, meine Hauptbeschäftigung. Ich muss sehr viel lesen, vor allem wissenschaftliche Paper, aber auch Artikel aus Fachzeitschriften usw. Zusätzlich schreibe ich auch sehr viel. Der Split Screen des iPads war für mich eine Killer-Applikation: Links das PDF, das ich lesen will, rechts meine Notizen dazu. Hat auch oft gut funktioniert. Aber auch oft nicht. Allerdings: Das Apple-Universum mit iCloud ermöglicht es mir, alle meine Dateien auf allen Geräten stets synchronisiert zu haben.

Aber doch war und ist es nicht perfekt. Es fällt mir manchmal schwer mich zu konzentrieren, denn, wie es oft ist, wenn man den Fokus auf etwas setzen will, dann kommen einem Erinnerungen, was man unbedingt noch erledigen und daher aufschreiben sollte, dann sieht man die Erinnerungen und bemerkt, dass man vergessen hat, etwas Dringendes zu tun usw. Das iPad ermöglicht das alles mit einem Gerät. Und so ist man schnell abgelenkt, vor allem wenn man etwas Schwieriges erarbeiten muss, ist die Verlockung, schnell mal Mails zu checken, sehr hoch. Mit dem reMarkable geht das nicht. Und genau diese Einschränkung bezahlt man für viel Geld. Applikationen, die einen selbst einschränken oder einem helfen, sich besser zu konzentrieren, hatte ich schon vor mehr als 10 Jahren angesehen und genutzt.

Habe ich generell ein Problem mit Konzentration? Nein. Aber es mag am Medium liegen. Ich habe mein bisher erfolgreichstes Buch (3 Auflagen) fast komplett auf Papier geschrieben, so unglaublich das auch klingen mag. In eine Kladde auf einer Terrasse in einer Bucht Sardiniens. Ich hatte keinen Computer mit, nur meine Gedanken. Und die habe ich dann runtergeschrieben, durchgestrichen, neu formuliert, usw, später zuhause am Rechner dann Screenshots und andere Materialien hinzugefügt. Ich allein mit dem Papier. Ich bin nicht sicher, ob ich das heute mit einem iPad hinbekommen würde. Denn auch wenn bei mir fast alle Benachrichtigungen ausgestellt sind, weiß das Gehirn, dass doch was Neues da sein könnte, und unser Gehirn giert danach. The Organized Mind von Daniel Levitin beschreibt, wie sehr unser Gehirn durch jede Störung stimuliert wird, was uns davon abhält, sich fokussieren zu können, denn Denken ist anstrengend. Besonders beeindruckend fand ich hier die Vorliebe von Sting, sich überall auf der Welt dasselbe Zimmer herrichten zu lassen, damit ihn nichts Neues ablenken kann.

Tranquility is the new luxury of our society. (5 AM Club, Robin Sharma)

Diese Ruhe ist ohne Zweifel ein Luxus, wenn man sozusagen für ein kastriertes Gerät mit weniger Funktionen so viel Geld zahlt, nur um Ruhe zu haben und sich fokussieren zu können. Vielleicht liegt meine Präferenz für Papier aber auch an meiner Sozialisation: Ich bin mit Papier groß geworden, habe alles auf Papier geschrieben, meine Abi-Klausuren, meine Abschlussprüfungen an der Uni, usw. Bücher am Rechner zu schreiben, zumindest ausschließlich am Rechner zu schreiben, ist für mich eine Qual. Ich muss meine Gedanken erst einmal sortieren, und auch wenn das am Rechner eigentlich einfacher geht, ziehe ich das Papier vor.

Aber das iPad hat noch andere Nachteile. Will ich draußen mit dem iPad lesen, dann sollte besser nicht die Sonne scheinen. Mit dem reMarkable kein Problem. Das kriegt das iPad nicht so gut hin. Abgesehen davon, dass das Gerät ganz schön schwer ist (653 Gramm “nackt” mit Stift/ 1060 Gramm mit Hülle inklusive Tastatur). Es eignet sich nicht wirklich zum längeren Lesen und in der Hand halten. Das reMarkable kommt auf 362 Gramm “nackt” mit Stift / 505 Gramm mit Hülle, wobei das etwas unfair ist, da die Hüllen sehr unterschiedlich sind. Ich nehme das iPad aus den genannten Gründen nicht gerne mit, wenn ich zum Beispiel kurz mal raus gehe. Es ist nicht nur schwer und unhandlich, nein, ich habe auch schon die Erfahrung gemacht, wie schnell das Glas kaputt gehen kann (und wie teuer der Ersatz ist).

Und was das iPad tagsüber in der Sonne zu wenig an Licht hat, das hat es dann Abends zu viel. Ich merke es, wenn ich abends zu lange auf den Bildschirm geschaut habe. Das iPad eignet sich für mich nicht zum längeren Lesen und Schreiben von Fachtexten, einmal aus ergonomischen Gründen, aber auch aufgrund manchmal mangelnder Disziplin. Frei nach dem 5 A.M. Club, elektronische Geräte sollten abends einfach nicht mehr genutzt werden, auch das ermöglicht das reMarkable, wenn man ein Auge zudrückt.

Das reMarkable hat allerdings ein paar Defizite, die für den Preis eher inakzeptabel sind:

  • Das WLAN-Modul scheint sehr schwach auf der Brust zu sein; es hat in meinem Arbeitszimmer 1 von 3 Strichen, wohingegen alle anderen Geräte mindestens 2 von 3 Strichen haben.
  • Der Akku hält bei mir ca 2-3 Tage, bei mittlerer Nutzung, für ein e-Ink-Display ist das nicht viel. Das Laden dauert Ewigkeiten.
  • Große PDFs (zum Beispiel Springer-Sachbücher zwischen 3 und 30 MB) sind für das reMarkable Tablet eine große Last, es kann dauern, bis man von einer Seite zur nächsten geblättert hat. Und gerade bei den großen PDFs scheint das reMarkable auch öfter mal abzuschmieren.
  • PDFs mit Passwortschutz kann das reMarkable gar nicht öffnen. Das ist ziemlich suboptimal.
  • Die Suche ist ein Witz. Man kann entweder nach Titeln von Büchern suchen, aber nur innerhalb eines Buches, wenn man dieses gerade geöffnet hat. Man kann dann auch nicht direkt vom Suchergebnis zu der Fundstelle springen, sondern muss sich die Seitenzahl merken und dann umständlich über mehrere Schritte zu der Seite navigieren.
  • Das Plastik wirkt billig und manchmal irgendwie schmutzig, auch wenn es sauber ist. Das ist für den Preis wirklich nicht angemessen.
  • Der Stift hat anscheinend gleich zwei verschiedene Plastiksorten bekommen, zumindest ist hier ein unterschiedliches Weiß zu erkennen:

Was mir außerdem nicht gefällt, ist der Lock-In. Ich bin in deren Cloud gefangen, was ist, wenn sie pleite machen? Bei tado habe ich mich das schon mehrmals gefragt, aber da kann man die Thermostate angeblich wenigstens noch manuell bedienen (dafür sind sie dann aber auch viel zu teuer). Bei reMarkable wäre man verloren, wenn die Cloud abgeschaltet würde. Vermutlich wird man dann irgendwann auch ein Abo bezahlen müssen, wie auch tado darauf geschwenkt ist. Was allerdings etwas hilft, ist, dass man angeblich auch per USB an seine Dokumente kommt. Das habe ich noch nicht ausprobiert, bedeutet aber, dass ich eventuell eine Applikation wie meinen Kindle Clippings Manager bauen könnte, die einen Ordner auf meinem Rechner mit dem Speicher des reMarkable synchronisiert. Das wäre besser als diese doppelte Organisation.

Insgesamt ist das Gerät also für die technischen Leistungsmerkmale, die Qualität und die Software hoffnungslos überteuert. Aber trotzdem mag ich es. Denn es erfüllt meinen Use Case besser als das iPad, und anders als das Moleskine ist es auch kein Ideenbegräbnis erster Klasse. Das hat es in den wenigen Wochen bisher bereits sehr gut bewiesen.

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